CARL MICHAEL ZIEHRER#

Komponist
Carl Michael Ziehrer

Eine Gedenkfeier erinnerte im Mai 1926 an den einst bedeutenden Komponisten Ziehrer, Radio Wien lässt zu diesem Anlass die schönsten Melodien erklingen und M. Frank findet Worte über das Leben des Johann Strauß Rivalen.

„Als vor kurzer Zeit Ziehrer im hohem Alter und in sehr beschränkten äußeren Lebensverhältnissen in Wien starb, ein einsamer Greis, der seinen Ruhm überlebt hatte, erinnerte man sich erst daran, dass derselbe Ziehrer vor einem Menschenalter ein gefeierter Wiener Tanzkomponist, eine Größe gewesen war, die man im Zusammenhang mit den großen, traditionellen Führern der heiteren Wiener Kunst, Strauß, Suppe und Millöcker, im Zusammenhang zu nennen gewohnt war. Zwar hat er in der Kraft seiner Gedanken diese Meister nicht erreicht, aber sein liebenswertes Talent hat uns doch manche Melodie geschenkt, die in Wien, wenn schon nicht auf der Welt unvergessen bleiben wird. Der Wandel der Zeit und der Denkungsart hat es mit sich gebracht, dass die Jungen von heute Ziehrer nur dem Namen nach kennen.

Er war ein echtes Wiener Kind. Schon früh für die Musik bestimmt, wurde er gründlich ausgebildet und besonders durch den Musikverleger Haslinger gefördert, der bereits 1863 einen Walzer des 20jährigen heraus gab. Die weitere Laufbahn Ziehrers war ähnlich der von Lanner und Strauß. Er gründete eine eigene Tanzkapelle, die in den bekannten Wiener Vergnügungs Lokalen, etwa im Dianasaal , oder im Apollo zu hören war und mit größtem Beifall aufgenommen wurde. Ziehrer der auch im äußeren Gehaben, in der Haar- und Barttracht Johann Strauß nacheiferte, stand da, gleich dem großen Jean, mit dem Fiedelbogen in der Hand und der in die Hüfte gestemmten Geige, auf der er dann und wann die starken und besonders schwungvollen Stellen mitspielte, so dass ihm alle Herzen zuflogen. Seinen weiteren Ruhm verdankt Ziehrer jedoch seiner Tätigkeit als Militärkapellmeister. Er verließ jedoch aus finanziellen Gründen und infolge von Streitigkeiten mit seinen Vorgesetzten diese Laufbahn und gründete sich 1878 ein eigenes Konzertorchester, mit dem er große Konzertreisen unternahm und die Wiener Musik ins Ausland brachte. Er hat in Konstantinopel dirigiert, in Bukarest, am rumänischen Hof, die größte Anerkennung gefunden und viele Auszeichnungen, Titel und Würden erlangt. Aber immer wieder lockte Ziehrer der Zauber der Montur. 1885 trat er wieder in den Soldatendienst ein und wurde Kapellmeister der Hoch- und Deutschmeister, als der er den alten Wiener noch in Erinnerung ist. Fast ein Dezennium war er an der Spitze der Wiener Hauskapelle zu sehen, wenn sie im Prater spielte, aber auch, wenn sie bei glänzenden Hoffesten mitwirkte. Die Krone des Erfolges wurde Ziehrer zuteil, als 1908, lange nach seiner Entlassung vom Regiment, zum Hofballmusikdirektor ernannt wurde. Er bekleidete dieselbe Stelle die einst Johann Strauß inne hatte. Aber die Bedeutung des Wiener klassischen Tanzes war bald dahin,und so ist Ziehrer, nicht nur infolge des politischen Umsturzes, sonder auch aus dem Zwang der inneren Entwicklung heraus, der letzte Hofballmusikdirektor geblieben.

Seine kompositorische Lebensarbeit ist ungemein groß. Er war fruchtbar wie die anderen Wiener Tanzkomponisten. Über 600 Tänze hat er hinterlassen. Dass bei einer so großen Zahl nicht alle gleichwertig sein konnten, ist naheliegend. Aber mancher Walzer wie etwa der Bürger Walzer oder Weaner Madln, sind populär geworden. Mancher Galopp, manche Polka wurde auf Bällen immer wieder verlangt und viele zarte Weisen und Lieder haben sich im Wiener Volksmund erhalten. Ziehrer hat sich auch als Operettenkomponist betätigt. Er schrieb 22 Bühnenwerke von denen aus seiner früheren Zeit „König Jerome“, dann die „Wiener Kinder“ den stärksten Beifall fanden. Von den späteren Werken war „Ein Deutschmeister“ lange allgemein verbreitet, dann aus den letzten Jahren mehrere Operetten, die durch die Darstellungskunst eines Girardi oder der anderen Operettengrößen sich immer wieder behaupten konnten. So ist es dem sehr feinen Stück „Die Landstreicher“ gelungen, sich zu halten oder dem „Tollen Mädel“, das sogar seinen Weg nach Deutschland gefunden hat. Ziehrer gab übrigens auch durch mehrere Jahre eine sehr reichhaltige Musikzeitschrift heraus.

Wien
Ziehrers Begräbnis

Am Abend seines Lebens stellten sich die Erfolge immer spärlicher ein. Man war gewohnt, in Operetten mehr zu verlangen als Gemüt und Herz und frische Melodien. Man wollte große Aufmachung, Tanzschlager neuen Stils und Sensationen in den Texten, mit denen übrigens Ziehrer fast immer Pech hatte. Als dann der Wiener Walzer durch die modernen Tänze verdrängt wurde, war es vollends mit ihm vorbei. Ziehrers Ruhm wanderte in die Vorstädte, endlich zu den alten Leuten. Aber man wird ihn auch allgemein heute noch, wenigstens in seinen stärksten, noch immer lebensvollen Tänzen als Komponisten von Geschick und Einfallsreichtum schätzen müssen und vor allem: als einen echten Vertreter der Wiener Kunst des 19. Jahrhunderts.

QUELLE: Radio Wien , 17. Mai 1926 Seite 7, BILDER: Das Interessante Blatt 12. November 1922, Seite 1 und 2. ANNO Österreichische Nationalbibliothek.

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