ADAM POLITZER#

Arzt
Adam Politzer, gemeinfrei

Wer im August 1920 einen Unfall hatte, oder sonst ärztliche Hilfe benötigte konnte leider keine Hilfsorganisation verständigen, denn an diesem Tag gab es einen Telefonstreik. Die Zahl der Meldungen über verschiedene Vorfälle, die die Hilfe der Rettungsgesellschaft nötig machten, erreichte und überstieg sogar den Durchschnitt und bei fast allen Meldungen hatte der Streik eine Verzögerung der Hilfe im Gefolge. Wenn auch die Polizei Kommissariate vom Streik ausgenommen blieben, waren Sicherheitswachstuben und Bahn-Polizeiinspektionen ohne telefonische Verbindungen. Die Meldungen über Unfälle oder Selbstmordversuche usw. mussten durch Boten den Kommissariaten und von diesen der Zentrale und der Filiale der Rettungsgesellschaft übermittelt werden. Mitunter wurden eigene Boten zur Rettungsgesellschaft direkt gesendet, was selbstredend die Hilfeleistung bedeutend verlangsamte. Die Nachricht, dass Hofrat Professor Adam Politzer leblos aufgefunden worden ist, wurde der Gesellschaft durch einen Hausgenossen im Automobil bekanntgegeben. Eine Meldung, dass eine Schwerkranke, die mit der Franz Josefs Bahn angekommen ist, abzuholen sei, wurde von der Bahninspektion dem Kommissariat Alsergrund, von diesem durch eine Depesche dem Kommissariat Landstraße und erst von da mit Telefon der Rettungsgesellschaft übermittelt. Eine schwerkranke Frau war mit der Südbahn aus Judendorf hierher gebracht worden, um ins Spital abgegeben zu werden. Da die Bahn Polizei aus dem Netze der zugelassenen Abonnenten ausgeschaltet war, musste die Tochter der Schwerkranken vom Südbahnhof zur Rettungsgesellschaft fahren, um die Beistellung eines Ambulanzwagens zu erbitten. Ein Hilfsarbeiter, der 38 Jährige Wilhelm Hamperl, der in der Postautogarage in der Blütengasse auf der Landstraße von einem Postauto an die Wand gepresst und schwer verletzt wurde, musste, da keine telefonische Verbindung zu erreichen war, in einem Postauto zur Zentrale gebracht werden, wo ihm Hilfe zuteil wurde. Am schwersten litt eine Hausgehilfin, die in der Kaasgrabengasse einen Beinbruch erlitten hatte. Vom Unfallort musste erst ein Bote zum Kommissariat geschickt werden, und von dort aus erfolgte erst die telefonische Verständigung der Rettungsgesellschaft.

Am 10. August 1920 um 10 Uhr Vormittags wurde der bekannte Ohrenarzt Hofrat Professor Dr. Adam Politzer von seiner Gattin in der Wohnung Wien 1., Gonzagagasse 19, leblos im Bett aufgefunden. Frau Politzer dachte erst an ein schweres Unwohlsein und bemühte sich, einen Arzt zu bekommen. Doch durch den Telefonstreik war das unmöglich. Ein Hausgenosse fuhr im Auto zur Rettungsgesellschaft. Inspektionsarzt Dr. Kremer kam mit einer Ambulanz, konnte aber nur mehr den durch Schlaganfall erfolgten Eintritt des Todes feststellen.

Adam Politzer war in Alberti in Ungarn am 1. Oktober 1835 geboren, absolvierte seine medizinischen Studien in der Wiener Universität und wurde im Jahr 1859 zum Doktor promoviert. Er arbeitete zunächst bei Karl Ludwig und trat mit zwei wichtigen Arbeiten, die 1861 gemeinsam erschienen, hervor: „Über die Innovation der Binnenmuskeln des Ohres“ und „Über den Einfluss der Luftdruck Schwankungen der Trommelhöhle auf die Druckverhältnisse im Labyrinth“. Dann ging er auf Reisen, um an bewährten Quellen neue Schaffenskraft zu erwerben. Beim Großmeister der Mikroskopie Köllicker in Würzburg machte er die Bekanntschaft der asiatischen Koryphäe Tröltsch. Er besuchte Helmholtz in Heidelberg und ging nach Paris zum berühmten Experimentalphysiologen Claude Bernard und dem hervorragenden Meister der Akustik König. Dort erschien die wichtige Arbeit „Über die Schwingungen der Gehörknöchelchen“. Dann suchte er den hervorragenden Fachmann Toynbee in London auf und studierte seine große Präparaten Sammlung. Noch 1861 als Privatdozent habilitiert, veröffentlichte er 1863 das Verfahren zu Lufteintreibung in die Ohrtrompete (Politzer Verfahren), wodurch er mit einem Schlag Weltruf erlangte. Im Lufe der Jahre folgten klassische und grundlegende Werke, ohne die eine wissenschaftliche Ohrenheilkunde unmöglich wäre, so „Beleuchtungsbilder des Trommelfells“; „Atlas der Krankheiten des Ohres“, Zergliederung des Gehörorganes im gesunden und kranken Zustande.“

Politzer hatte auch eine große Präparaten Sammlung angelegt, die für verschiedene Museen bestimmt, die einen Schatz bilden, der seinesgleichen nicht auf der Welt hat. Zahlreiche klinische Bilder von hervorragender Wichtigkeit hat er zuerst aufgestellt und anatomisch begründet. Seine Handfertigkeit bis zum Handwerk hinab und zur Kunst hinauf hat nicht nur seine wissenschaftliche Eroberungen gefördert, sondern auch seine ungewöhnliche Lehrbegabung 1870 außerordentlicher Professor geworden, übernahm er als Ordinarius 1873 die Leitung der Universitätsohrenklinik im Allgemeinen Krankenhaus. Im Laufe der Jahrzehnte zählte er nicht weniger als 7000 ausländische Hörer. Sein Lehrbuch erlebte von 1878 bis 1908 fünf Auflagen und erschien in französischer, spanischer und englischer Übersetzung. Sein Verfahren hat gewissen Formen der Schwerhörigkeit Hilfe gebracht.

Ungemein verdienstvoll war auch sein Wirken als Armen Ohrenarzt der Gemeinde Wien. Seine Tätigkeit als großer Sammler kam auch der Ohrenheilkunde zugute. Eine Bibliothek der gesamten Spezialliteratur, darunter viele seltene ältere Bücher, und eine Riesensammlung von Bildnissen früherer und zeitgenössischer Mitarbeiter in der geschichtlichen Entwicklung der Ohrenheilkunde sind die Frucht der Tätigkeit. Die Sammlung, die wieder für öffentliche Institute bestimmt ist, war die Grundlage des großen Werkes „Die Geschichte der Ohrenheilkunde“, dessen großer Band der bis 1850 reicht, als Geschichtswerk klassisch ist. Der zweite Band, unter Mitwirkung seiner Assistenten verfasst, ist hauptsächlich nach einzelnen Themen geordnet, und stellt ein erschöpfendes Referat über alle Arbeiten der letzten sechs Jahrzehnte dar. Ein so komplettes Repertoir einer Fachwissenschaft hat kaum ein zweites medizinisches Werk auf zu weísen. Auch an der operativen Ohrenheilkunde hat Politzer den regen Anteil genommen.

Seine Behandlung des Mittelohrkatarrhs hat zu einem ungeahnten Aufschwung der Ohrenheilkunde geführt. Dem Schriftsteller Politzer haben seine umfassenden sachlichen Kenntnisse und die klare Schilderung der Krankheitserscheinungen größte Bedeutung verschafft. Von seiner besonderen manuellen Geschicklichkeit geben seine bisher unübertroffenen anatomischen und pathologischen Präparate des Gehörorgans einen glänzenden Beweis. Sie haben in wissenschaftlichen Kreisen des In-und Auslandes große Bewunderung erregt und Politzer musste auf Drängen seiner nordamerikanischen Kollegen einen Teil der Präparate der Universität Philadelphia überlassen, wo sie eine Zierde der anatomischen Sammlungen bilden. Als Lehrer genoss Politzer Weltruf. Seine lichtvollen Darstellungen schufen der Wiener otologischen Schule überall das größte Ansehen. Viele nunmehr hervorragende Ohrenärzte verdanken ihm ihre Ausbildung. Politzer war auch ein Gelehrter und vielseitiger Kunstsammler, mit allen nötigen Techniken und Quellen vertraut.

Als er nach Absolvierung seines „Ehrenjahres“ 1907 feierlichen Abschied von der Stätte seines Wirkens nahm, wurde ihm eine Plakette mit seinem Reliefbildnis verehrt. Le Feier gestaltete sich durch die vielen Zeichen treuer Anhänglichkeit seitens der Kollegen, Schüler und einstigen Patienten besonders herzlich. Auch der 9. Oktober 1909, der fünfzigste Jahrestag seiner Doktor Promotion, legte Zeugnis ab von Politzers Ruhm und Beliebtheit. Rektor und Dekan überreichten ihm das erneuerte Doktordiplom und aus allen Weltgegenden trafen ehrenvolle Kundgebungen ein. Der Gelehrte feierte diesen Tag durch eine hochherzige Widmung, indem er dem Rektor für die Universität eine testamentarische Schenkungsurkunde über seine reiche Bibliothek einhändige, ein überaus wertvolles Geschenk, da Politzer, ein passionierter Sammler auf wissenschaftlichem und künstlerischem Gebiet, eine vollständige Sammlung aller Werke und Schriften seines Faches zusammengebracht hatte, darunter viele seltene Exemplare. Seine Präparaten Sammlung ist für das Wiener anatomische pathologische Museum, ein kleiner Teil für Budapest bestimmt.

In den letzten Jahren hatte sich der greise Gelehrte, körperlich rüstig und vollkommen Geistes frisch , fern von jedem Hervortreten in der Öffentlichkeit, mit Medizin, Kunst und auch Politik beschäftigt. Praxis hatte er nicht mehr ausgeübt.

Hofrat Politzer hat verschiedenen jüdischen Vereinen angehört. Seit Jahren stand er an der Spitze des Kuratoriums des Jüdischen Museums.

Während einer Unterredung die er heute in seiner Wohnung in der Gonzagagasse hatte, wurde er von einem plötzlichen Unwohlsein befallen. Er verlor das Bewusstsein und starb, ehe ärztliche Hilfe zur Stelle war.

Quelle: Verschiedene Zeitungen der ÖNB

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