Schultüte#

Bild 'Sept1'

Als sichtbares Zeichen eines neuen Lebensabschnitts tragen Schulanfänger die Schultüte, ein halbmeterhohes buntes Gebinde, das mit Schulsachen und Süßigkeiten gefüllt ist. Der Brauch hat Parallelen zu älteren Gewohnheiten, den Kindern den Eintritt in die Schule oder die Geburt eines Geschwisterchens mit Näschereien schmackhaft zu machen.  Als Zitat des römischen Dichters Horaz (65 - 8 v. Chr.) ist überliefert: "Den Knaben geben freundliche Lehrer erst Brezel, damit sie willig die Anfangsgründe des Wissens lernen". In Köln war es um 1500 üblich, Buben (nur für sie war ein freiwilliger Schulbesuch vorgesehen) zur Einschulung Brezel und Süßigkeiten zu schenken.

1810 hiess es in Sachsen, dass "kleinen Menschen der Abschied vom Elternhaus mit einer 'Zuggodühde' versüßt" wurde. 1817 erhielt ein Schüler in Jena "eine mächtige Tüte Konfekt" zur Einschulung. 1852 erschien in Dresden das "Zuckertütenbuch für alle Kinder, die zum ersten Mal in die Schule gehen." 1920 erschien das Bilderbuch "Der Zuckertütenbaum". Der Zuckertütenbaum wächst im Schulkeller. Seine Früchte sind reif, wenn die Kinder schulreif sind, die die Süßigkeiten ernten dürfen. Nach anderen Angaben gab es in der Schule ein Gestell, an dem die von den Eltern vorbereiteten Tüten aufgehängt und von den Kindern weggenommen wurden.

Ein literarisches Zeugnis gibt Erich Kästner (1899-1974) von seinem Schuleintritt in Dresden 1905: Nach mehr als einem halben Jahrhundert erinnerte er sich noch genau an ein dramatisches Erlebnis. "Die Eltern standen, dichtgedrängt, an den Wänden und in den Gängen, nickten ihren Söhnen ermutigend zu und bewachten die Zuckertüten. … Meine Zuckertüte hättet ihr sehen müssen! Sie war bunt wie hundert Ansichtskarten, schwer wie ein Kohleneimer und reichte mir bis zur Nasenspitze! … Ich trug meine Tüte wie eine Fahnenstange vor mir her. … Es war ein Triumphzug. Die Passanten und Nachbarn staunten. Die Kinder blieben stehen und liefen hinter uns her…" Als der kleine Erich einer befreundeten Geschäftsfrau sein Geschenk zeigen wollte, stolperte er über die Stufe zum Laden, "und dabei brach die Tütenspitze ab! … Ich stand bis an die Knöchel in Bonbons, Pralinen, Datteln, Osterhasen, Feigen, Apfelsinen, Törtchen, Waffeln und goldenen Maikäfern. … Welch ein Überfluss! Und ich stand mittendrin. Auch über Schokolade kann man weinen …"

Bild 'Schultüte2'

In Österreich fand das Kindergeschenk 1938 Eingang, der zweite Schub erfolgte in der Wohlstandswelle der fünfziger Jahre. Der langjährige Direktor des Österreichischen Museums für Volkskunde, Leopold Schmidt, schrieb 1977: "Im 19. Jahrhundert scheint sich in Mitteldeutschland die Schultüte, die mit Süßigkeiten gefüllte Zuckertüte … in den Schulbrauch begeben zu haben. … Dieser Brauch, die Neulinge durch Süßigkeiten an die Schule zu gewöhnen, ist besonders in Mittel- und Norddeutschland lebendig geblieben. Die Großstädte haben den Brauch allmählich auch nach Süddeutschland und nach Österreich verbreitet." Inzwischen ist die Gabe auch hierzulande allgemein üblich. Seit 1996 verschenkt ORF-Radio Ö3 mit Geschenken und Gutscheinen gefüllte Schultüten. In Anbetracht von jährlich mehr als 80.000 Taferlklasslern ist auch der wirtschaftliche Faktor des Brauchs nicht zu unterschätzen. Er hat inzwischen Varianten: An manchen Wiener Schulen erhalten Lehrer/innen eine kleine Tüte von Kollegen/innen oder Familienangehörigen und es gibt Hundeschultüten.

2021 kommen 88.772 Kinder - zwei Prozent mehr als im Vorjahr - in die Schule. In Wien, Niederösterreich und dem Burgenland starten laut Zahlen des Bildungsministeriums am 6. September rund 37.700 Kinder in den ersten Schultag, in den restlichen Ländern sind es am 13. September rund 51.000. Die meisten SchulanfängerInnen gibt es in Wien (18.200/plus 400), Niederösterreich (16.800/plus 200) Oberösterreich (16.400/plus 400) und in der Steiermark (11.900/plus 400). In Tirol sind es 7600, in Salzburg 5.400, in Kärnten 5.300 Kinder (jeweils unverändert), in Vorarlberg 4.400 (plus 200) und im Burgenland sind 2.700 (plus 100).
Die Gratiszeitung "Heute" schreibt am 27.8.2021 zum bevorstehenden Schulbeginn: Ein Muss für jeden Taferlklassler ist in jedem Fall eine Schultüte. Diese kann fertig gekaut (befüllt oder leer) oder selbst gebastelt werden. Zahlreiche Anleitungen dazu gibt es im Internet. Mittlerweile gibt es zudem auch Schultüten die zur Schultasche passen oder auch personalisiert (mit Namen) werden können. Als Füllung (maximal zwei Kilo) eignen sich etwa Schreibwaren, Brotdose, Trinklasche und ein Freundebuch. Süßigkeiten dürfen natürlich auch nicht fehlen. Die Zeitung listet auch "Die Top-5-Geschenke zum Schulbeginn" auf: Schreibwaren (24%), Bekleidung (19%), Süßigkeiten, Schultasche (18%), Bargeld (17%). Oberösterreichische Familien geben dafür durchschnittlich 111 € aus, Kärntner nur 69 €.


Quellen: 
Hermann Bausinger: Volkskunde. Darmstadt 1971. S. 138 f.
Leopold Schmidt: Brauch ohne Glaube. Würzburg - München 1977. S. 305 f.
Hunde-Schultüte

Bilder:
Schultüten in Wien, 2013. Fotos: Doris Wolf


Siehe auch: